34. Spieltag: SV Wehen Wiesbaden - FC St. Pauli

Was für ein Glück, dass wir heute gewonnen haben! So darf ich zum Saisonfinale nochmal ran. Was für ein Privileg und eine Ehre nach dieser Saison. Darum lasse ich einfach mal meinen Gedanken freien Lauf, da meine Gefühle nach der Anspannung der letzten Wochen noch etwas brauchen...

Pfingsten. Der Aufsteiger vom Hamburger Millerntor wird nach Wiesbaden reisen. Wiesbaden entließ unseren Ex Markus Kauczinski und zankt sich am letzten Spieltag mit unseren Kollegen aus Rostock (parallel bei den geretteten Lauterern) um die Chance, über die Relegation die Klasse doch noch zu erhalten. Der Ausgang dieses Spiels ist demzufolge für unsere Gastgeber erheblich bedeutungsvoller als für den FC St. Pauli, bei dem es um die Vergoldung einer Ananas geht.

Meine Gedanken nach diesem heutigen Spiel reisen vom Abpfiff und dem Platzsturm rückwärts durch meine braun-weiße Biografie.
Was für eine Truppe!
Was für ein Kapitän! Jackson Irvine, der geborene Leader für genau diese Mannschaft! Mit anerkennendem Neid, habe ich in den letzten Wochen von etlichen HSVern gehört, wie sehr sie uns um diesen Spieler beneiden!
Was für eine Achse dazu mit Smith, mit Hartel und vorn mit Eggestein und Afolayan! Oder Metcalfe! Auf welcher Position kann der eigentlich nicht? Vielleicht sollte lieber er ins Tor, falls Vasilj sich mal verletzt... Und all die anderen Helden von heute!

Und die Heroen von einst? Pröpper, Meggle, Stani, Ebbers, die unfassbaren Jungs der Bokal-Mannschaft und das ewig unvergessliche Stisi! Oder meine eigenen ersten Helden am Millerntor, die Namen wie Zander, Kocian und Golke hießen.


Es war mein Schulfreund Stevie, der mich zum FC St. Pauli brachte. Er, ursprünglich mehr oder weniger lose HSVer, ich durchaus noch mit jugendlicher Inbrunst Anhänger der Bayern. Stevie nahm mich zum ersten Mal mit ans Millerntor. Und dieser eine Tag Ende der 80er Jahre veränderte mein Leben.
In den Folgejahren hatten wir parallele Fankarrieren, arbeiteten uns hoch von den Bäumen hinter der alten Nord. (Ja, so war das damals, da konnte man als junger Fan noch in Astgabeln von Bäumen „Kämpfen, Pauli, kämpfen!“ brüllen.) Später wechselten wir auf die Gegengerade und wurden Dauerkartenbesitzer. Wir stellten umfangreiche empirische Studien an, welche Kombinationen aus Bier, Stadionwurst und verschiedenen Fischbrötchen unser Pauli am besten zum Sieg geleiten konnten. Leider blieb uns das sichere Erfolgsrezept trotz großer Mengen Bier, Wurst und Fischbrötchen versagt. Es war die Zeit, da unser Gegner schon Angst vor den Gästekabinen hatten. Es war die Zeit, da Sankt Pauli-Willi noch bei knackigem Frost in kurzen Hosen seine Runden drehte. Ein Fabian Hürzeler wartete noch darauf, das Licht der Welt zu erblicken.
Ach, mein Sankt Pauli, würde es gehen, würde ich dich umarmen!
Alle, die erst in der jüngeren Zeit den FC für sich gefunden haben, dürfen sich auf ihre eigenen frühen Erweckungen und Erinnerungen freuen. Es lohnt sich!

Die Jahre gingen ins Land und mit ihm der FC St. Pauli durch einige gute und vor allem durch schlechte Zeiten. So viele Spieler und Trainer kamen und gingen, Spiele wurden gewonnen und noch mehr auch nicht. "Sankt Pauli schult den Charakter!"
Bei vielen, vielen Guinness und unendlich vielen Partien Backgammon in unserer inzwischen abgerissenen Heimatkneipe oder auch dem guten alten Shamrock in der Feld wurden Taktiken erdacht, Aufstellungen optimiert und Transfers erdacht, die allesamt nie wahr wurden. Irgendwann einmal führten wir eine sehr emotionale Diskussion, in der ich davon sprach, dass der damals noch übermächtige HSV absteigen könnte. Stevie war felsenfest davon überzeugt, dass das niemals passieren würde. Er war so entschieden dieser Meinung, dass mir das über all die Jahre in Erinnerung geblieben ist, und ich bin sicher, dass Stevies Meinung auch in ganz Fußball-Deutschland vorherrschte – beim HSV sowieso.

Die Zeit verläuft auf der Erde linear, das Leben aber nicht. Stevie und ich verloren uns vor vielen Jahren aus den Augen. Wir haben so nie darauf angestoßen, dass der große HSV zu uns in die 2. Liga hinabstieg und da bis heute blieb.


Mit dem heutigen Tag hat sich noch etwas verändert. Erstmals seit Einführung der Bundesliga wird der FC Sankt Pauli in einer Saison-Abschlusstabelle vor dem großen HSV stehen. Aber nicht nur das. Der FC Sankt Pauli wird nach einer insgesamt sehr, sehr starken Saison in die Bundesliga zurückkehren. Er, der dieses Ziel nie lautstark postulierte, der es aber systematisch anstrebte, dieser FC St. Pauli wird aufsteigen und den HSV in der 2. Liga zurücklassen. Ich glaube, von sowas habe nichtmal ich in meinen frühen Jahren zu träumen gewagt. Und dieses Szenario macht mich so demütig, dass ich vielleicht erst in den nächsten Tagen anfangen kann, meine ganze Freude langsam in mir aufsteigen (Wort des Tages) und aus mir herauszulassen!

Ganz gleich, ob diese völlig neue Konstellation nur eine einjährige Episode darstellen wird, ein Wimpernschlag-Awakening in der Geschichte des Hamburger und des deutschen Fußballs - oder aber eine Zäsur, ein wirkliches Verschieben der Machtverhältnisse - dieser Moment ist ein besonderer: Darauf werde ich gleich ein perfektes Bier genießen und auf dich anstoßen, Stevie! Auf dich, auf den Tag, an dem du mich ans Millerntor gebracht hast und auf Fabian Hürzeler, Andreas Bornemann, auf Jackson, Dapo, Eric, Connor und auf alle anderen!


Was nun aus dieser Situation erwachsen kann oder auch nicht, hängt natürlich von vielen ab. Und vieles davon liegt gar nicht in den Händen des FC St. Pauli. So zum Beispiel, ob der HSV sich wieder wie Phönix erheben oder eher dem 1. FC Kaiserslautern folgen wird.

Schwerer als der Aufstieg ist der Klassenerhalt. Schwerer als der Klassenerhalt ist das Etablieren. Ob wir dem Beispiel von Mainz oder gar Freiburg folgen können, das hängt auch ganz erheblich vom (erfolgreichen) Handeln unserer Protagonisten ab.
Gelingt es Bornemann, dem Kader mehr Tiefe zu verpassen? Kann er die ja offenkundigen und ja auch hinlänglich bekannten Kaderschwächen auszubessern?
Kann Fabian Hürzeler der Mannschaft immer wieder neue taktische Nuancen vermitteln, sie immer neu erfinden und sie auch auf die veränderten Anforderungen in der 1. Liga anpassen? Kann er auch sich weiterentwickeln? Wird er es schaffen, seinen Spielern zu dem kontrollierten und designten Systemfußball auch Feuer und maximale Leidenschaft zu vermitteln? Und nicht die Gelb-Karten-Statistik der Mannschaft anzuführen?

Wir alle werden uns in der Sommerpause der Vorfreude hingeben können, all den Spekulationen, dem Tratsch über Gerüchte und Namedropping, werden dutzende Ideen und Vorschläge haben und uns fragen, warum Bornemann denn nicht endlich auf uns hört. Hier im Forum oder in der wirklichen Welt beim Grillen, beim Anschauen der EM-Spiele oder wobei auch immer.
Ich auch, mit all den Menschen, mit denen ich heute den Fußball und mein Pauli teile. Ich werde auch das eine oder andere Guinness trinken und hoffentlich jemanden finden, der mit mir Backgammon-Steine verschiebt. Ich werde Musik hören und innerlich bestimmt nochmal anstoßen und leise Danke sagen. Danke, dass ich diesen einen magischen Moment haben durfte, der mich vor über 35 Jahren mit diesem Fußballclub infizierte und mich den heutigen Tag als einen so besonderen begreifen lässt!

Doch für den Moment ist das und alles, was in der kommenden Saison passieren wird, noch nicht wichtig.
Die Mannschaft wird auf Geheiß des Präsidenten, wenn ich ihn richtig verstanden habe, bis Pfingstdienstag durchfeiern. Gut so! Zwischendurch sollte man vielleicht noch erfolgreich besagtes Spiel in Wiesbaden angehen. Für uns mag es allenfalls um die komische Felge gehen. Aber wie ätzend es ist, wenn sich Teams im Saisonfinale hängenlassen, der frage mal in Köln oder Berlin nach, wie gut sie auf den BVB zu sprechen sind, nachdem dieser alles dafür getan hat, von Mainz abgeschossen zu werden. So soll mein Pauli bitte nicht sein!
Außerdem hat es die tolle Saison unserer Mannschaft verdient, mit einem Sieg im letzten Spiel, mit der Meisterschaft und vor allem mit sportlich-fairem Verhalten gekrönt zu werden. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass Hürzelers Ehrgeiz es nicht zulässt, den letzten Spieltag abzuschenken.
Der Rest ist für nächstes Wochenende, für Pfingsten. Wie passend, dass diese großartige Saison mit dem Aussenden des Heiligen Geistes endet.

Auf geht’s ihr Jungs in Braun! Forza die Guten! Forza die Besten!

Ein Traum, ein Traum, ein Traum! Come on you Boys in Brown!
This contribution was last edited by phippswe on May 15, 2024 at 7:57 AM hours